Initiativantrag zum 18. Ordentlichen DGB-Bundeskongress

“Aktionsplan für Integration
und Chancengleichheit entwickeln“

 

Die Integration von Migrantinnen und Migranten wird derzeit heftig diskutiert. Aktuelle Anlässe waren die Probleme an der Rütli-Schule in Berlin, die Debatte um Zwangsverheiratungen, die schulischen Leistungen von Kindern mit Migrationshintergrund oder auch die „Einbürgerungs- oder Gesinnungstests“ in Sachsen, Baden-Württemberg und Hessen.

 

Eine intensive und sachliche Debatte über die Integration und die Teilhabechancen ist, angesichts eines über 30 %-igen Bevölkerungsanteils mit Migrationshintergrund in einigen Kommunen in Westdeutschland, längst überfällig. Zu lange haben Politik und Gesellschaft die mit der Einwanderungsgesellschaft verbundenen Chancen und Herausforderungen ignoriert. Das in Teilen der Bevölkerung und der Parteien bis heute noch vorhandene Dogma „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ hatte schwerwiegende negative Konsequenzen für die soziale Situation der Eingewanderten und ihrer Kinder.

Für den DGB steht fest: Migrantinnen und Migranten haben große Verdienste beim Aufbau der Bundesrepublik Deutschland erworben. Ihre Leistungen, das gilt auch für die von der ehemaligen DDR angeworbenen Vertragsarbeiter, tragen bis heute zur ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklung unserer gemeinsamen Gesellschaft bei.

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit ausländischer Staatsangehörigkeit bzw. mit Migrationshintergrund engagieren sich in den Gewerkschaften und bei Tarifauseinandersetzungen; sie sind als Vertrauensleute, Betriebs- und Personalräte oder als Ausbilder in den Betrieben aktiv tätig. In anderen Bereichen, beim Zugang zu Bildung und Arbeit sowie in Gesellschaft und Politik mangelt es dagegen an Chancengleichheit.

 

Der DGB begrüßt den Vorschlag der Bundeskanzlerin zur Durchführung eines Integrationsgipfels, zu dem auch Selbstorganisationen der Migranten eingeladen werden sollen. Die Agenda darf aber nicht verengt werden auf Forderungen ausschließlich an die Eingewanderten, z.B. die deutsche Sprache zu erlernen. Ungleich verteilte Chancen, rechtliche Benachteiligungen sowie Vorurteile in der Gesellschaft lassen vorhandene Anstrengungen scheitern und führen zur Ausgrenzung.

Die Integrationspolitik muss daher umfassend und als Querschnittsaufgabe verstanden werden und alle ökonomischen und gesellschaftliche Lebensbereiche einbeziehen. Darüber hinaus müssen auch rechtliche Integrationshemmnisse, wie sie beispielsweise im Hinblick die Gewährung von Aufenthaltsrechten bestehen, abgebaut werden. Der DGB unterstützt daher einen von Staat und Gesellschaft getragenen „Aktionsplan für Integration und Chancengleichheit“.

 

Nach Auffassung des 18. Ordentlichen DGB-Bundeskongress muss der „Aktionsplan für Integration und Chancengleichheit“ folgende Zielsetzungen und Handlungsfelder beinhalten:

 

1. Integration ist ein zweiseitiger Prozess.

Der DGB ist überzeugt: Integration erfordert auf der einen Seite den Willen der Eingewanderten, die deutsche Sprache als Verkehrssprache zu erlernen und die im Grundgesetz verankerten humanistischen und politische Grundwerte anzuerkennen. Auf der anderen Seite müssen die Möglichkeiten zur Eingliederung geschaffen werden und die Bereitschaft zur Anerkennung der Vielfalt vorhanden sein. Ziel der Integration ist nicht Assimilation in eine vermeintlich vorhandene „Schicksalsgemeinschaft“, in der Eingewanderte möglichst unsichtbar leben. Ziel ist die Weiterentwicklung einer gemeinsamen und pluralen Gesellschaft, die allen Einwohnern, unabhängig von der Frage, ob jemand eingewandert ist oder nicht, gleiche Chancen zur Teilhabe in Gesellschaft, Bildung, Arbeitsleben und im sozialen Umfeld und bei politischen Entscheidungen bietet.

 

2. Integration braucht einen sicheren Aufenthaltsstatus

Voraussetzung für die Integration ist eine sichere Aufenthaltsperspektive und ein sicherer Aufenthaltsstatus, der einen gleichrangigen Zugang zum Beschäftigungssystem beinhaltet.

Immer noch leben in Deutschland knapp 200.000 geduldete ausländische Staatsangehörige, deren Aufenthalt alle 3 – 6 Monate verlängert werden muss. Mehr als die Hälfte leben bereits länger als 5 Jahre und rund 25 % länger als 10 Jahre in Deutschland. Die mit dem Zuwanderungsgesetz verbundene Zielsetzung der Abschaffung der Kettenduldungen konnte nicht erfüllt werden. Im Gegenteil, durch die Vielzahl von Widerrufen von Asylberechtigungen verlieren Flüchtlinge ihren Status. Ihnen blieb, da sie nicht abgeschoben werden dürfen, nur die Duldung. Aufgrund des neuen arbeitserlaubnisrechtlichen Verfahrens wurde den meisten Geduldeten die Arbeitserlaubnis entzogen, sie sind jetzt auf staatliche Transferleistungen angewiesen. Betroffen sind auch Kinder von Geduldeten, die zwar eine Schule besuchen können, aber nur in Einzelfällen eine betriebliche Ausbildung beginnen dürfen.

Neben der Gruppe der Geduldeten ist der Status von Menschen mit einer befristeten Aufenthaltserlaubnis, z. B. aus humanitären Gründen, unsicher. Von den rund 6,7 Millionen ausländischen Staatsangehörigen hatte am Ende letzten Jahres ein Drittel keinen gesicherten Aufenthaltsstatus.

Der DGB fordert,

Ø        eine Bleiberechtsregelung für alle ausländischen Staatsangehörigen, die bereits länger als 5 Jahre in Deutschland leben, unabhängig von ihrem Status und die Aufhebung der Widerrufspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge,

Ø        einen Arbeitsmarktzugang für in Deutschland lebende ausländische Staatsangehörige nach einem Jahr Wartezeit und die Aufhebung der Arbeitsverbote für Geduldete.

 

3. Bildung und Ausbildung

Fast ein Drittel aller Kinder und Jugendlichen in Westdeutschland stammen aus Familien mit Migrationshintergrund (ausländische Staatsangehörige, Eingebürgerte, Spätaussiedler). Fast 20 % der ausländischen Jugendlichen verlassen die Schule ohne Abschluss und fast die Hälfte (nur) mit einem Hauptschulabschluss.

Die Ergebnisse der PISA- und IGLU-Studien belegen: In keinem Industrieland ist der Bildungserfolg so stark vom sozialen Status der Eltern abhängig wie in Deutschland. Sichtbar wird dieser enge Zusammenhang bei Kindern aus Arbeiterfamilien oder von Arbeitslosen, von Spätaussiedlern und bei Kindern, deren Eltern oder Großeltern für einfache Tätigkeiten angeworben wurden. Die Ursachen für den mangelnden Erfolg sind weniger in der fehlenden Bildungsmotivation zu suchen, als vielmehr im unzureichenden Umgang mit kultureller Vielfalt und in dem Mangel, soziale Statusunterschiede auszugleichen.

Eine abgeschlossene Schulausbildung auf möglichst hohem Niveau gehört zu den wesentlichen Voraussetzungen für den Einstieg in den Beruf. Die Ausbildungsbeteiligung ausländischer Jugendlicher nimmt seit Mitte der 90er Jahre kontinuierlich ab und liegt derzeit bei unter 30 %. Neben der unzureichenden Schulausbildung lassen sich aber auch ausländerrechtliche Hindernisse sowie Vorbehalte und Vorurteile gegenüber bestimmten Migrantengruppen als Gründe für diese Situation identifizieren.

Der DGB ist überzeugt, dass angesichts der sozialen und gesellschaftlichen Entwicklung vorhandene Potentiale genutzt werden müssen und fordert daher

Ø        den Bildungsauftrag des Kindergartens zu stärken, um insbesondere die Grundlagen für die Sprachentwicklung zu legen und allen Gruppen der Bevölkerung unabhängig von der sozialen Herkunft den Besuch eines kostenlosen Kindergartens zu ermöglichen,

Ø        die individuelle Förderung im Bildungssystem auszubauen, unter anderem auch durch Anerkennung und Unterstützung herkunftssprachlicher Kompetenzen und durch ein flächendeckendes Ganztagsangebot,

Ø        neben der allgemeinen Verbesserung des Ausbildungsangebots, den Ausbau regionaler Netzwerke und die verstärkte Nutzung ausbildungsbegleitender Hilfen sowie die Förderung der Qualifizierung des Ausbildungspersonals und der Berufsschullehrer, und

Ø        den gleichrangigen und unbeschränkten Zugang zur betrieblichen Berufsausbildung auch für ausländische Jugendliche, unabhängig von Aufenthaltsdauer und Status.

 

4. Integration braucht Sprache

Mit dem Zuwanderungsgesetz wurde erstmals der gesetzliche Anspruch zur Teilnahme an einem Integrationssprachkurs für einen Teil der Zugewanderten verankert. Neben den anspruchsberechtigten Neueinwanderern können auch EU-Bürger und bereits im Land lebende Migrantinnen und Migranten an den Kursen teilnehmen, sofern noch Kapazitäten vorhanden sind. Die rechtlichen und organisatorischen Vorgaben sowie die mangelnde finanzielle Ausstattung (2,05 € pro Stunde und Teilnehmer) verhindern aber vielfach ein differenziertes, den Vorkenntnissen entsprechendes qualifiziertes Angebot. Die extrem niedrigen Honorare der Lehrkräfte stehen im Widerspruch zu den – mit Recht – hohen Anforderungen an deren Qualifikation.

Der Erwerb der deutschen Sprache ist kein einmaliger Akt, der nach 600 Stunden Sprachkurs abgeschlossen ist, sondern er muss ein Bestandteil des lebenslangen Lernens werden.

Der DGB fordert

Ø        eine deutliche Verbesserung bei der Finanzierung und der Qualität der Sprachkurse; nicht verbrauchte Mittel dürfen nicht in den allgemeinen Haushalt zurück fließen,

Ø        stärker als bisher lebensweltliche Inhalte und Alltagshilfen in die Integrationssprachkurse mit einzubeziehen,

Ø        den Ausbau niederschwelliger und zielgruppenspezifischer Angebote, z. B. für Eltern, die an den Kindergärten oder Schulen angesiedelt werden sollten,

Ø        den Erhalt und Erweiterung fachsprachlicher Ausbildung im Rahmen der Angebote der Arbeitsförderung und in den berufsbildenden Schulen.

 

5. Integration und Einbürgerung

Der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit ist ein wichtiger Bestandteil des Integrationsprozesses und nicht dessen Abschluss; Ziel muss daher sein, möglichst viele bereits lange in Deutschland lebende ausländische Staatsangehörige von der Annahme der deutschen Staatsangehörigkeit zu überzeugen. Es liegt im Interesse eines jeden Staates, möglichst alle seine Einwohner zu gleichberechtigten Staatsangehörigen zu machen, nur so kann eine dauerhafte Identifizierung mit den Grundwerten und demokratischen Entscheidungen erreicht werden.

Mit dem neuen, im Jahr 2000 in Kraft getretenen Staatsangehörigkeitsrecht wurde das alte aus dem Jahr 1913 stammende Recht erweitert. Geschaffen wurde die Möglichkeit, Kindern von lange in Deutschland lebenden Ausländern mit der Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit zu verleihen. Ebenfalls eingeführt wurde ein Anspruch auf Einbürgerung unter klaren Voraussetzungen, zu denen unter anderem Aufenthaltsdauer, Sprachkenntnisse, Lebensunterhaltssicherung gehören.

Im Mai haben die Innenminister der Länder Verschärfungen bei der Einbürgerung vereinbart. Einbürgerungswillige sollen, unabhängig von ihren Kenntnissen aus Schule und Beruf einen verpflichtenden Test ablegen. Betroffen hiervon wären auch viele unserer schon lange in den Betrieben tätigen Kolleginnen und Kollegen. Darüber hinaus müssen sie an einem Staatsbürgerschaftskurs teilnehmen. Die Einigung der Innenminister ermöglicht, trotz der Erhöhung der Einbürgerungshürden, in jedem einzelnen Bundesland die bisherigen „Wissens- oder Gesinnungstests“ beizubehalten. Mit ihnen wird der Rechtsanspruch auf eine Einbürgerung ausgehöhlt und die Einbürgerung liegt im Ermessen der Behörden. Der Grundsatz des deutschen Rechtssystems, dass niemand wegen seines Glaubens oder der politischen Einstellung verurteilt werden darf, sondern nur wegen seiner Handlungen oder beweisbarer Tatsachen, muss auch für die Einbürgerung gelten.

Der DGB ist überzeugt, dass die Einbürgerung die Anerkennung und Akzeptanz der Rechtsnormen der Bundesrepublik Deutschland voraussetzt. Dies schließt ausdrücklich auch die im Grundgesetz verankerten Grund- und Menschenrechte mit ein.

Der DGB fordert,

Ø        die Schaffung bundeseinheitlicher Regelungen zur Einbürgerung statt einer Politik der Kleinstaaterei bei der jede Behörde eine eigene Einbürgerungspolitik machen kann,

Ø        die Rücknahme der Verschärfungen beim Sprachnachweis; insbesondere für erste Generation sollten die Hürden abgesenkt werden,

Ø        Einbürgerungskurse anzubieten, die zur aktiven Beteiligung am gesellschaftlichen Leben anregen; die Teilnahme muss auf freiwilliger Basis ermöglicht werden,

Ø        die Hinnahme der Mehrfachstaatsangehörigkeit, insbesondere für ältere Migrantinnen und Migranten und auf Basis gegenseitiger Anerkennung, und

Ø        die Bundesländer auf, ihre völkerrechtswidrige Praxis der „Gesinnungsüberprüfungen“ aufzugeben.

 

6. Integration braucht Gleichbehandlung

Trotz europarechtlicher Verpflichtung und Verurteilung durch den europäischen Gerichtshof konnte in Deutschland noch kein Gesetz zur Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung verabschiedet werden. Die Bundesregierung hat vor einigen Wochen einen erneuten Vorschlag für ein „Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz“ vorgelegt, dass in weiten Teilen die Vorgaben der EU-Richtlinien umsetzt.

Der DGB unterstützt ausdrücklich die Schaffung eines Nichtdiskriminierungs- und Gleichbehandlungsgesetzes, nach dem niemand wegen seiner sozialen oder ethnischen Herkunft, seiner Hautfarbe, seines Geschlechts oder der sexuellen Identität, der Religion, einer Behinderung oder des Alters diskriminiert werden darf. Das Gleichstellungsgebot muss für alle Lebensbereiche, für das Beschäftigungssystem, für die Bildung und für den Zugang zu Waren und Dienstleistungen gelten.

Eine offene Gesellschaft erfordert eine Politik der Gleichbehandlung, diese setzt auch – das zeigen betriebliche Beispiele – Potentiale bei den Beschäftigten frei und führt so zum wirtschaftlichen Erfolg. Daher muss die Verabschiedung des Gleichbehandlungsgesetzes durch politische Initiativen begleitet und die Umsetzung in Betrieb und Gesellschaft unterstützt werden.

Trotz weitergehender Forderungen setzt sich der DGB für eine möglichst umgehende Verabschiedung des „Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes“ und für die Einrichtung von möglichst ortsnahen Beratungs- und Unterstützungsstrukturen ein. Zur Umsetzung des Gesetzes in Betrieb und Gesellschaft fordert der DGB die Bundesregierung auf, eine Kampagne zur Sensibilisierung der Bevölkerung zu initiieren.